Es gibt eine Vielzahl von Kanarienrassen, deren Erscheinungsbilder nicht mehr mit der wohlgerundeten Finkenform des „gewöhnlichen“ Kanarienvogels übereinstimmen. Es gibt kugelrunde und sehr langgestreckte Kanarien, manche tragen eine Federhaube auf dem Kopf oder Frisuren am Körper und wieder andere nehmen eine absonderlich anmutende Haltung ein. Der Laie findet die eine oder andere Kanarienrasse nicht schön oder gar hässlich. Dann wird diese Ablehnung leider noch viel zu oft mit der persönlichen ethischen und moralischen Wertevorstellung begründet und dem Züchter dieser Rassen jegliche Ethik und Moral abgesprochen.
Im alltäglichen Sprachgebrauch werden die Begriffe Ethik oder ethisch zur Bezeichnung des moralisch Guten verwendet. Es findet also eine wertende Beurteilung einer Handlung statt, womit wir bei der Moral oder Sittlichkeit sind.
Unsere Moralvorstellungen sind in überlieferten Werten, Normen und Tugenden festgeschrieben und sind somit immer durch Tradition, Erziehung und Ideologie kulturell geprägt. Unmoralisch ist es, wenn gegen die Moralvorstellungen verstoßen wird und amoralisch ist es, wenn Moralvorstellungen gänzlich fehlen oder abgelehnt werden. Von einer Doppelmoral wird gesprochen, wenn unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe für gleiche oder ähnliche Sachverhalte angewendet werden.
Und dann haben wir noch den Moralismus als übersteigerte Form des Moral- und Sittlichkeitsempfinden. Moralisten grenzen sich von anderen ab und sind überzeugt, dass allein sie auf der richtigen – der „guten“ – Seite stehen. Moralisten stellen ihre radikalen moralischen Überzeugungen über die Auffassungen anderer Menschen, lassen deren Moral als minderwertig und unmoralisch erscheinen.
Unstrittig ist, dass jeder Mensch von Beginn an die sittliche Kultur der Gemeinschaft, in der er lebt, anerzogen bekommt. Das bedeutet aber auch, dass in anderen Kulturen andere sittliche Normen gelten, die wir zur Kenntnis nehmen und beachten müssen. Sittlichkeit und Moral entwickeln sich ständig weiter und verändern sich im Laufe der Zeit. In den letzten Jahrzehnten hat ein rapider Wertewandel in der Mensch-Tier-Beziehung stattgefunden, der sich weiter fortsetzen wird. Die Einstellung, dass der Mensch mit Tieren machen kann, was er will, solange es dem Menschen nutzt, schwindet.
Es ist heute nicht mehr allein der individuellen moralischen Einstellung überlassen, wie mit Tieren – und hier speziell mit Vögeln – umgegangen werden soll. Der Gesetzgeber hat dazu eine Fülle von Vorschriften erlassen. Die Regeln, Gesetze und Verbote sollen uns zwingen, die tatsächlich oder vermeintlich richtige sittliche Einstellung zum Umgang mit Tieren einzunehmen. Leider ist es aber auch Tatsache, dass die gut gemeinte, und in Gesetze gegossene, moralische Einstellung zur Tierhaltung nur so lange gilt, bis wirtschaftliche Interessen im Vordergrund stehen. Oder wie ist es zu erklären, dass verschiedene Impfstoffe gegen die Geflügelpest („Vogelgrippe“) entwickelt wurden, aber keiner auf dem Markt verfügbar ist? Also werden weiterhin tausende Hühner, Gänse und Enten gekeult, wenn das Virus nachgewiesen wird. Oder es dauert Jahrzehnte, bis sich der Gesetzgeber entschlossen hat, das Schreddern männlicher Hühnerküken zu verbieten … Wie soll ein Mensch in heutiger Zeit an die Wirksamkeit ethischer Gebote glauben, wenn von „Fleischproduktion“ gesprochen wird. Statt gegen dieses Verhalten massiv anzukämpfen, erscheint es manchen Moralisten daher viel leichter, sich an der kleinen Gruppe der Ziervogelhalter abzuarbeiten, ihnen die Liebe zum Tier abzusprechen und die Vogelhalter als unmoralisch oder amoralisch handelnde Menschen abzustempeln.
Manche Positurkanarien nehmen eine für Außenstehende sonderbar erscheinende Haltung ein. Kenner dieser Haltungs- und Figurenkanarien finden das wunderschön, andere finden diese Vögel aber abstoßend. Manch einer äußert sein Missfallen in drastischen Worten wie „Missgeburt“, „krankhaft“ oder „ihr Anblick ist nicht zumutbar“. Das ist Ausdruck des persönlichen Schönheitsempfindens und ist ganz normal. Leider begründen manche Menschen ihre ablehnende Meinung mit der Behauptung, dass diese Vögel doch Schmerzen haben müssten und deshalb leiden.
Um diese Meinung zu untermauern, finden sich kluge Menschen (meist sind es Tierärzte und kaum Zoologen, Ethologen oder Anatomen und niemals kompetente Züchter), die wissenschaftlich beweisen wollen, dass krankhafte Veränderungen des Körperbaues bei Figurenkanarien vorhanden sind, und diese Vögel deshalb leiden müssen. Sicher ist jedoch, dass alle Figurenkanarien lebensfrohe, agile und fruchtbare Vögel sind, die in ihren Heimatländern zu Hunderten auf Ausstellungen gezeigt werden und teilweise als Nationalvögel gelten.
Wo bleibt die Toleranz und Akzeptanz gegenüber der Andersartigkeit und Vielfalt fremdländischer Rassegeschöpfe? Gerade wir Deutschen sind gut beraten, wenn wir nicht (wieder) – auch nicht bei Vogelrassen – entscheiden oder bestimmen, was lebenswert oder züchtenswert ist und was nicht. Auch das hat etwas mit Moral und Ethik zu tun!
Tierschutz in der Vogelzucht
Einen veränderten Körperbau finden wir bei allen Haustierrassen, die nicht mehr mit der Wildform zu vergleichen sind. Auch bei vielen Positur-Kanarienrassen hat sich der Körperbau verändert, da die Natur das ermöglichte. Der Mensch hat diese Geschenke der Schöpfung dankbar entgegengenommen und nach seinem Willen weiterentwickelt.
Wie unschwer an den Bildern der Skelette zu erkennen ist, besitzen die Figurenkanarien den gleichen Knochenaufbau, nur deren Stellung ist unterschiedlich. Bei den Cardueliden ist die Halswirbelsäule in Ruhehaltung s-förmig gekrümmt und bildet so den relativ kurzen Hals. Die Figurenkanarien können die Halswirbelsäule, die nicht mehr Wirbel als „normale“ Kanarien hat, nach vorn strecken. Die beteiligten Muskeln und Sehnen ermöglichen das. Gleiches gilt für die Ober- und Unterschenkel sowie der Läufe, die in veränderten Winkeln zueinander stehen.
In einer vergleichenden Studie wurden 33 Positurkanarien der Rassen Bossu Belge, Südholländer und Gibber Italicus untersucht. Dabei stellte das Forscherteam fest, dass die Rassen Gibber Italicus und Südholländer acht statt sieben Rippenpaare hatten. Die Anzahl der Halswirbel ist unverändert, jedoch war die Länge der Wirbel beim Südholländer geringfügig größer (± 0,03 mm). Inwieweit diese Veränderungen zu gesundheitlichen Problemen insbesondere bei zunehmendem Alter der Vögel führen könnten, bedürfe weiterer Untersuchungen.[6] Züchter dieser Rassen können jedoch keine altersbedingten Probleme feststellen.
Vögel können auch im Tiefschlaf auf Ästen sitzen, ohne dass der Klammerreflex der Zehen aufgehoben wird. Wenn sich ein Vogel auf einen Ast niederlässt, beugt er das Knie und das Intertarsalgelenk und verringert den Winkel zwischen beiden Knochen. Eine Sehne, die über das Kniegelenk zum Intertarsalgelenk führt, wird dabei angezogen. Das führt dazu, dass die Zehen den Ast ohne Muskelarbeit fest umklammern können. Die Zehen besitzen einen ähnlichen Mechanismus, der die gekrümmte Zehenstellung ohne aktive Muskelarbeit fixiert. Der Vogel kann den Ast nur dann loslassen, wenn er aktiv die Beine streckt.[7]
Es wird von manchen Menschen befürchtet, dass bei Figurenkanarien, deren Lauf und Unterschenkel eine gerade oder nahezu gerade Linie bilden, diese Haltung zu Störungen des Greifreflexes führen. Diesen „Fachleuten“ wird empfohlen, sich nur einmal eine Stunde vor die Voliere mit Gibber Italicus zu stellen und die Vögel zu beobachten. Er wird schnell feststellen, dass die Vögel ihre „absonderliche“ Haltung ganz frei und ohne Zwang einnehmen. Offensichtlich haben sie Freude an der Zurschaustellung ihrer körperlichen Vorzüge. Manche Gibber stehen nahezu meditativ mit durchgedrückten Intertarsalgelenken bis zu einer halben Stunde auf der Stange. Das würden sie sicherlich nicht tun, wenn ihnen „die Beine wehtun“.
Langbeinige Vogelarten (z. B. Flamingos) können stundenlang auf einem Bein stehen, weil das Intertarsalgelenk in der Endstellung einrastet. Ob das auch bei den betreffenden Figurenkanarien der Fall ist, müsste noch untersucht werden.
Frisierte Figurenkanarien
In dieser Gruppe der Positurkanarien sind Vögel zusammengefasst, die Frisuren haben und zeitweise eine besondere Arbeitshaltung einnehmen. Alle diese Rassen sind aus Kombinationen zwischen glattbefiederten Figurenrassen und Frisé-Kanarien mit gerader Haltung entstanden.
Die frisierten Figurenkanarien sind sicherlich die umstrittenste und mit den größten Vorurteilen behaftete Gruppe der Positurkanarien. Diese Vorurteile werden meist von Menschen geäußert, die sich niemals mit diesen Rassen beschäftigt haben. Die Ablehnung dieser Rassevögel beruht auf Unwissenheit und auf einer persönlichen ästhetischen Meinung. Aus Unwissenheit wird behauptet, dass die Vögel nicht fliegen, ihre Jungvögel nicht selbst aufziehen können und natürlich auch Schmerzen und Leiden ertragen müssen, da sie züchterisch gezwungen werden, eine unnatürliche gebogene Haltung einzunehmen.
All diese Vorurteile und Unterstellungen sind nicht wahr! Die Zuchtfreudigkeit ist oftmals größer als bei anderen Kanarienrassen. Eventuell auftretende geringe Zuchterfolge sind meist auf die individuellen Fehler der Züchter zurückzuführen, wie sie auch in der Zucht aller anderen Vögel gemacht werden können. Werden Frisé-Figurenrassen artgerecht gehalten und gefüttert, gibt es keinen nennenswerten Unterschied zur Vermehrungsfreudigkeit anderer Rassen.
Artgerecht halten bedeutet in diesem Fall, dass der höhere Wärmebedarf der dünn befiederten Frisé-Figurenrassen zu jeder Jahreszeit berücksichtigt werden muss.
Alle Positurrassen haben ihre eigenen Verhaltensweisen und besonderen Charaktere – quirlig lebhaft, dreist zutraulich oder ruhig und phlegmatisch. Mit den Rassen der frisierten Figurenkanarien haben wir die sensiblen und nervösen Kanarienvögel vor uns. Sie sind aufmerksam, aber auch ängstlich; sie registrieren jede Bewegung und beobachten aufmerksam jede Veränderung in ihrer Umgebung. Geschieht etwas für sie Ungewohntes, können sie schnell nervös werden, was sich in einer Flucht oder in Umherflattern äußert. Aus den gleichen Gründen neigen einzelne Vögel zum Trippeln auf der Sitzstange, d. h. sie treten schnell von einem Bein auf das andere.
Dieses Verhalten ist als „Übersprunghandlung“ zu werten, da der Vogel in dieser Erregungsphase nicht so recht weiß, wie er sich verhalten soll – flüchten oder bleiben. Dieses rassetypische, sensible Verhalten muss durch einen ruhigen Umgang mit diesen Vögeln berücksichtigt werden.
Einzelne Vögel der Frisé-Figurenkanarien nehmen im Schaukäfig eine sogenannte „Schaffnerhaltung“ oder auch „Straßenbahnhaltung“ ein, womit ein Festhalten mit einem Fuß an den seitlichen Gitterstäben bezeichnet wird. Ursache ist oft eine lockere, kippelnde oder zu dicke bzw. zu dünne Sitzstange. Der Vogel versucht dann mit diesem Haltegriff die Balance zu halten, ähnlich wie es Menschen tun, wenn die Bahn in eine Kurve fährt. Aus diesen Ursachen kann dann eine individuelle Angewohnheit werden. In der Voliere wird dieses Verhalten meist nicht gezeigt. Mit einer krankhaften Gleichgewichtsstörung, die den Rassen eigen sein soll, hat das jedenfalls nichts zu tun. Wenn es so wäre, würden das alle Vögel ständig tun müssen, was jedoch nicht der Fall ist.
Diese Verhaltensweise und der sensible Charakter dieser Rassevögel führte 2018 dazu, dass die Genehmigungsbehörde frisierte Figurenkanarien aus der öffentlichen Ausstellung zur DKB-Meisterschaft verbannt hat. Ein weiteres Argument zum Präsentationsverbot war, dass „den Besuchern der Anblick dieser Vögel nicht zuzumuten sei“! Durch das Präsentationsverbot auf einer der größten Bewertungsschauen Deutschlands ist damit ein optischer Vergleich des Zuchtstandes und auch der tierschutzgerechten Weiterentwicklung dieser Rassen durch die Züchter ein Riegel vorgeschoben worden. Statt persönlicher Empfindungen der Amtspersonen wäre eine Abstimmung mit den Kanarienexperten für alle Seiten hilfreicher gewesen.
Aufgrund ihres eigenen Charakters müssen die Ausstellungsvögel besonders ruhig trainiert und auf veränderte Käfigstandorte vorbereitet werden. In der Bewertungsschau sollten sie in einer ruhigen Ecke des Ausstellungsraumes und nicht zu weit unten im Regal untergebracht werden. In ihrem allseits offenen Schaukäfig erkennen die Vögel vermeintliche Gefahren schon von Weitem und können sich darauf einstellen. Außerdem fühlen sie sich sicherer, wenn sie von oben herabschauen können.
Trotz ihrer absonderlich anmutenden Arbeitshaltung, dem sensiblen Verhalten und dem teilweise spärlichen Gefieder besitzen diese vitalen Vögel alle natürlichen Lebensfunktionen. Ein erreichtes Lebensalter von 10 Jahren bei bester Gesundheit ist keine Seltenheit. Deshalb konnten sie auch über mehr als ein Jahrhundert erfolgreich gezüchtet werden und gehören heute zum europäischen Kulturgut.
Text Norbert Schramm – veröffentlicht im „Der Vogelfreund“ 05/2022
Quellen und Literatur
[1] Lorz, Metzger: Tierschutzgesetz, Kommentar. München, 1999.
[2] Definition der International Association for the Study of Pain. Unter: https://www.iasp-pain.org/Education/Content.aspx?ItemNumber=1698#Pain.
[4] Tierschutzgesetz. Unter: https://www.gesetze-im-internet.de/tierschg/BJNR012770972.html
[5] „Qualzuchtgutachten“. Unter https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/_Tiere/Tierschutz/Gutachten-Leitlinien/Qualzucht.html
[6] Krautwald-Junghans, M.-E., Emmelmann, S., Pees, M., Bartels, T.: Vergleichende Untersuchungen am Bewegungsapparat von gebogenen Positur- und Farbkanarienvögeln. Vet. Med. Austria / Wien. Tierärztl. Mschr.90 (2003), 211 – 219. Unter: https://center.ssi.at/smart_users/uni/user94/explorer/43/WTM/Archiv/2003/WTM_8-2003/WTM_08-2003_Artikel_2.pdf
[7] Bergmann, H.-H.: Die Biologie des Vogels. Aula-Verlag Wiesbaden, 1987.
Positurkanarienstandard des Deutschen Kanarien- und Vogelzüchterbund e.V. (Stand 2020), Loseblattsammlung
H. Claßen, W. Kolter: Die Positurkanarien. Eigenverlag Rheinmünster, 2005.
T. Müller, U. Feiter: Faszination Positurkanarien – eine Leidenschaft für’s Leben. Palm Druck & Verlag, Baesweiler, 2013.
N. Schramm: Kompendium-Kanarien, Band 3, Positurkanarien aus aller Welt. Books on Demand, Norderstedt, 2022.